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Lesetipp ***** Das spezielle Leben einer Inselfamilie

Werbung – Rezensionsexemplar

Zur See von Doerte Hansen

Zur See
von Dörte Hansen

Originalausgabe, Hardcover mit Schutzumschlag, 256 Seiten
ISBN 978-3-328-60222-4
Erschienen am 28. September 2022 im Penguin Verlag (Werbung)
Eine Leseprobe und Bestellmöglichkeiten bei diversen Händlern findest Du auf der Verlagswebsite.

Woher kommt unsere Liebe zum Meer und die ewige Sehnsucht nach einer Insel?
Die Fähre braucht vom Festland eine Stunde auf die kleine Nordseeinsel, manchmal länger, je nach Wellengang. Hier lebt in einem der zwei Dörfer seit fast 300 Jahren die Familie Sander. Drei Kinder hat Hanne großgezogen, ihr Mann hat die Familie und die Seefahrt aufgegeben. Nun hat ihr Ältester sein Kapitänspatent verloren, ist gequält von Ahnungen und Flutstatistiken und wartet auf den schwersten aller Stürme. Tochter Eske, die im Seniorenheim Seeleute und Witwen pflegt, fürchtet die Touristenströme mehr als das Wasser, weil mit ihnen die Inselkultur längst zur Folklore verkommt. Nur Henrik, der Jüngste, ist mit sich im Reinen. Er ist der erste Mann in der Familie, den es nie auf ein Schiff gezogen hat, nur immer an den Strand, wo er Treibgut sammelt. Im Laufe eines Jahres verändert sich das Leben der Familie Sander von Grund auf, erst kaum spürbar, dann mit voller Wucht.

Klappentext

Dörte Hansen kennst Du vielleicht als Autorin von ihren ersten beiden Romanen Altes Land und Mittagsstunde, beides waren gehypte Bestseller. Altes Land habe ich gelesen, mochte es – allerdings primär wegen des Lokalkolorits, denn es spielt in Hamburg-Ottensen und im Alten Land, was beides hier in der Nähe und mir gut bekannt ist. Bei Mittagsstunde bin ich über eine Leseprobe nicht hinaus gekommen, die mich gelangweilt hat.

Umso mehr freue ich mich, dass ich Zur See als Rezensionsexemplar bekommen habe, denn über die Leseprobe wäre ich da vermutlich auch nicht hinausgekommen. Es fängt langsam und alkoholikerlastig an, gewinnt dann aber an Tempo, Vielschichtigkeit, Charme und Lösungen.

Zur See spielt in Zeeland, Jütland oder Friesland … und bietet damit eine Identifikationsfläche für alle Menschen, die irgendeine Nordseeinsel kennen. Ich finde es schön, dass es nicht um eine konkrete Insel geht, weil das der eigenen Phantasie mehr Platz lässt.

Das Buch spielt im Wesentlichen heute und in kurzen Rückblenden auf die Kindheit von Ryckmer, Eske und Henrik – die drei Kinder von Hanne und Jens Sander. Dann gibt es noch einen vor vielen Jahren zugezogenen Pastor, der an seinem Glauben zu zweifeln beginnt und dem die Frau stückweise davonläuft sowie ein paar Inselbewohner in Nebenrollen.

Die fünf Personen der Familie Sander haben eins gemeinsam: Sie finden ihren Platz im Leben nicht auf runde Weise.

Ryckmer Sander findet, dass er zu viel weiß, um nüchtern einzuschlafen.“

Seite 17f

Vom Kapitän zum betrunkenen Decksmann auf einer Fähre bis zum Seebestatter – was ist passiert, dass Ryckmer beruflich und privat durchs Leben schlingert? Er hat als Kapitän eines Schiffes in einem Sturm die Kontrolle verloren und sich bis heute nicht gefangen.

Eske kommt nicht raus aus der jugendlichen Rebellion und kann sich weder auf die Liebe noch ein friedliches Leben einlasen. Tattoos und Heavy Metall machen das Leben für sie aushaltbar. Ist auf Dauer Platz für ihre Freundin in ihrem Bett, die beim Schlafen ihre Arme und Beine wie ein Seestern von sich streckt (vgl. Seite 236)?

Wunschkind kann ein böses Wort sein, wenn dieses Kind die Wünsche seiner Eltern zu erfüllen hat, als wäre es ein Zauberer.“

Hanna über Henrik auf Seite 79f

Henrik sammelt nicht nur einfach Treibholz, er ist eins mit dem Meer und schafft Kunstwerke aus dem Treibgut, das er jeden Morgen zusammen mit seinem Hund sammelt. Die Kurztripgäste und Zweitwohnsitzbewohner aus den schicken Reetdachhäusern reißen ihm die Skulpturen aus der Hand. Er hat finanziell ausgesorgt, lebt aber weiter in seiner Bretterbude.

Er braucht nichts außer dem Meer, seinem Hund, seiner Kunst und jedes Jahre einen neuen Pullover, den Hanne ihm zum Geburtstag strickt. Der vom Vorjahr wird zum Backup, den vom Vorvorjahr bekommt der Hund für sein Körbchen. Seine Unruhe der Kindheitsjahre scheint sich in diesem von der Welt etwas abgekapselten Leben aufgelöst zu haben.

Jens ist vor 20 Jahren kommentarlos auf eine Vogelschutzstation gezogen und hat Hanne damit de facto verlassen. Jetzt spürt er, dass das einsame Leben dort für ihn ganz plötzlich nicht mehr das Richtige ist. Doch wohin führt sein Weg? Wer möchte er künftig sein? Schrittweise versucht er, sich Hanne wieder anzunähern. Heimlich und leise.

„Auf allen Inseln gibt es Frauen, die man nicht erschrecken kann, weil sie in ständiger Bereitschaft leben.“

Seite 14

Hanne ist so eine Frau, die nichts umhaut. Ob der Mann zur See fährt und verschwindet, obwohl er abgeheuert hat, ob der Sohn von ihr mit berufstauglichem Alkoholpegel durchs Leben zu führen ist und dennoch manchmal total abstürzt oder die Tochter ihr nicht verzeiht, dass sie sich als Kind nicht gesehen fühlte und sich um Henrik zu kümmern hatte, während die Sommergäste im Haus waren.

Mit der Hochzeit mit Jens, den Geburten der Kinder und ihrer Arbeit in Tracht im Heimatmuseum erfüllt sie die Rolle, von der sie denkt, dass sie für die bestimmt ist. Aber ist das wirklich die Rolle, die ihr in ihrem Leben gut tut?

Sachlich, ungerührt und doch dabei Bilder in den Kopf malend. Das Besondere an dem Roman ist die norddeutsche Sprache. Das Buch hat mich nach dem anfänglichen Holpern in seinen Bann gezogen. 256 Seiten erscheinen wenig, aber dennoch hat man eine Weile daran zu lesen, weil jede Seite gehaltvoll ist.

Wer lieber dicke Bücher liest, lässt sich von der Kürze bitte nicht von diesem Roman abhalten. Trotz der persönlichen Desaster der Protagonisten erscheint mir die Geschichte nicht traurig. Vielschichtig trifft es besser.

Kennst Du die Romane von Dörte Hansen? Wie gefallen sie Dir?

PS: Gelernt habe ich den Begriff, dass man eine Fahne dippen kann. Durch kurzes Nieder- und Aufholen grüßt man beim Dippen mit der Fahne. Ein schönes Wort und schöner Brauch, oder?


10 Antworten auf „Lesetipp ***** Das spezielle Leben einer Inselfamilie“

Mir hat das Buch wirklich unsagbar gut gefallen. Und ich fand es auch schön, dass man nicht so ganz hat festmachen können, wo die Handlung spielen soll. Es könnte sich eigentlich auch um die Ostsee handeln oder sogar um irgendeine mega-gehypte Region in den Alpen. Oder auf Sri Lanka.
Dieses Gefühl, dass man von Fremden vereinnahmt wird, es aber zulassen muss, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ist schon sehr frustrierend. Andererseits dreht sich die Welt weiter und alles verändert sich.
Danke für deine schöne Rezi
Sabiene

Freut mich, dass Dir das Buch auch so gut gefallen hat – und meine Rezi dazu. Ja, die Region ist im Grunde egal – es geht um die Mikrokosmos, die alten Traditionen und eine gewisse Abgeschiedenheit von der Welt im restlichen Land.

Wird man nicht immer ein bisschen von Fremden vereinnahmt, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen? Ich gebe in meinem Job ziemlich viel von mir.

Ich finde es ziemlich grandios, dass du es ‚ausgehalten‘ hast. Manchmal sind es gerade diese Bücher, die dann das Herz berühren.
Manchmal ist es Ungeduld oder das ‚Gar nicht finden‘, dass einen aufhören lässt.

Es ist sehr schön, wie du das Buch vorstellst. Ich habe von ihr noch nichts gelesen und komme auch nicht so richtig ‚ran‘.
Vielleicht liegt es daran, dass ich beim Lesen gern in andere Gefilde als nördliche reise.. Ich weiß es nicht.

Aber ich freue mich mit dir, dass die Lektüre sich gelohnt hat.

Liebe Grüße
Nicole

Mein Herz hat das Buch definitiv berührt. Obwohl die Insel fiktiv ist, hatte ich genaue Wege und Häuser vor Augen und mein Opa war Walfänger und bei uns lagen früher die Walzähne und -ohren mit Schnitzereien, die die Seeleute zum Zeitvertreib an Bord gefertigt haben, zur Dekoration oder als Briefbeschwerer herum. Jetzt sind davon auch welche in einem Museum auf einer Insel. Der Bezug der Handlung ist schon nah bei mir.

Ich bin mir nicht sicher, wie es Dir mit dem Buch ginge. Vielleicht in einer Buchhandlung mal hereinblättern und eben nicht die ersten Seiten lesen, sondern eine spätere Stelle als kurze Leseprobe nehmen.

Das freut mich, dass Ihnen das Buch gefällt.
Sehr schöne Rezension!
Ich bin ja sozusagen Dörte Hansen fan
und bin sehr begeistert von „Zur See“.
Schon länger hat mich kein Buch über Wochen immer wieder beschäftigt.
Es bleiben einige unbeantwortete Fragen, wunderbar.
Und Ihr Opa war Walfänger!

Wie schön, danke für die Zustimmung, dass es ein gutes Buch ist. Ich habe mich mit der Rezension einen Hauch schwer getan, weil ich es schwer fand, Worte für die Handlung und die Schwingungen zu finden, vor allem ohne zu spoilern.

Was hat Sie an dem Buch nicht losgelassen?

Ja, mein Opa war Bootsmann – eine Fahrt auch als Ersatz für den Koch – und als solcher auf Großer Fahrt unterwegs – viel Südamerika und Afrika. Und Walfang. Und im Krieg zweimal versenkt worden, davon einmal im Eismeer. Er hat sich gewünscht, dass es ein drittes Mal passiert wäre und er es überlebt hätte – wer dreimal versenkt wurde, durfte in Frührente bei guten Bezügen gehen. Er war schon ein kerniger Kerl – einer, der nach Rückkehr erstmal einen Teil der Heuer auf der Reeperbahn gelassen hat. Aber er hatte nur ein Tattoo (ein kleiner Stern auf dem Oberarm ganz oben) und selbst das hat er sehr bereut. Vielleicht habe ich deshalb keine.

Interessant finde ich in dem Buch, dass die Inselmenschen und Seefahrer von den Inseln keine Seebestattung wollen, weil sie eben gerade nie im Meer enden wollten. Mein Opa wollte genau das und meine dem sehr verbundene Mutter auch. Deshalb liegt auch mein Vater in der Ostsee und ich werde irgendwann folgen. Mein Mann auch und auch er hat Bezug zur See. Also entweder eine neue Seite, die ich bisher nicht kannte, oder kreative Handlung der Autorin?

Liebe Ines, überwinde dich und lies Mittagsstunde und schau dir vor allem die aktuelle Verfilmung an! Das Buch ist vielschichtig, auf mehreren Ebenen erzählt, da muss man erst reinkommen. Ich hab es gehört, von Hannelore Hoger gelesen, das war noch mal besonders. Und der Film ist eine wunderbar umgesetzte Ergänzung, mit tollen Schauspielern.
Ich mag ja Bücher, die nicht stromlinienförmig erzählt werden, wo Sprache und Handlung durchaus ein bisschen Anstrengung erfordern, bringt wohl mein Beruf mit sich. Hansen gehört eindeutig zu den Autorinnen, die für mich literarisch wertvoll sind und unterhaltend.
Diesen Roman werde ich vorläufig trotzdem nicht lesen, ich brauche Abstand zu ihr. Das Thema ist nicht meins.

Viele Grüße Susanne

O.K. – überzeugt. Aber ich werde es entweder lesen oder sehen. Beides nicht, denn Verfilmungen passen nicht mit den Bildern in meinem Kopf zusammen und das stört mich dann. Vermutlich werde ich es also lesen.

Zur See hat mich jedenfalls intensiv in seinen Bann gezogen.

Habe soeben den Film gesehen und weiß jetzt, dass mir der genauso wenig gefällt, wie der Einstieg ins Buch Mittagstunde. Demenz und (zu) hohes Alter ist weder unterhaltsam, noch bringt mich so eine Geschichte weiter. Demenz ist einfach nur furchtbar. Dramen reichen mir IRL, die brauche ich nicht noch filmisch.

Der Film ist eine eigenständige Geschichte bzw. greift nur die Haupthandlung auf. Man läuft nicht Gefahr zu vergleichen.
Ich fand das Thema wunderbar umgesetzt mit Charly Hübner, ohne irgendwelche prolligen Attidüden.
Aber wie alles, sind das wieder subjektive Empfindungen.
LG

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